Die Zukunft des NS-Gedenkens: Geschichte als gesellschaftliche Selbstverständigung

Die Zukunft des NS-Gedenkens: Geschichte als gesellschaftliche Selbstverständigung. Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte III

Organisatoren
Christina Morina, Professur für Zeitgeschichte, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Veranstaltungsort
Zentrum für interdisziplinäre Forschung Bielefeld
PLZ
33615
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.01.2023 -
Von
Falk Pingel, Bielefeld

Der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ belegt das historische Ereignis mit einer gegenwärtigen, auch politisch bezogenen Bedeutung; doch mit diesem Gegenwartsbezug wechseln die Deutungen, da der Rückblick auf die Vergangenheit den wechselnden Perspektiven der voranschreitenden Gegenwart unterliegt, die einmal unbestimmte Zukunft war. Der Gedenktag bildete den Anlass, in der dritten Debatte zur Zeitgeschichte Konstanz und Wandel, subjektiven Bezug und politische Funktionalisierung bzw. Inanspruchnahme der Geschichte in der Gegenwart zu thematisieren, aber auch danach zu fragen, welche Zukunft denn unsere durch einen Gedenktag fixierte Erinnerung haben wird oder haben kann: Legt der Gedenktag sie fest, bleibt sie offen für Wandel, fordert der Wandel Debatten, Kontroversität, ja unverträgliche Deutungen und Wertschätzungen des historischen Ereignisses in den fortschreitenden Gegenwarten heraus?

CHRISTINA MORINA (Bielefeld) thematisierte den kontroversen Charakter des Gedenkens: Dieses Jahr stehen zum ersten Mal die wegen geschlechtlicher Diversität Verfolgten im Zentrum des Gedenkens – Opfer einer Verfolgung, die rechtlich erst in jüngerer Vergangenheit überwunden wurde, deren Opfer aber auch heute noch von Teilen der Gesellschaft diskriminiert werden, auch wenn die offizielle Politik sie würdigt. Mit dem den damaligen Verfolgten unbekannten, oder jedenfalls unbenutzten Begriff der Diversität nahm Morina eine positive, gegenwartsgesättigte Gedenkperspektive auf, denn „Diversität“ ist heute offiziell positiv besetzt und schließt eine große Breite von Verschiedenheit ein; damals aber waren die Homosexuellen nicht einfach verschieden, sondern die „Anderen“, die „Ausgestoßenen“. In Hinblick auf „zeitgemäßes Gedenken“ verwies Morina auf Michael Rothbergs Konzept der multidirektionalen Erinnerung1, die im Prinzip traumatische Ereignisse der Geschichte unter den Leitkategorien von Konkurrenz, die Unterschiede betont, und von Solidarität, die auf Gemeinsamkeiten unter Anerkennung der Unterschiede gerichtet ist, unbegrenzt miteinander vergleichbar mache oder vielleicht besser, es erlaube sie miteinander in Beziehung zu setzen. Allerdings, so schränkte Morina die Weite dieses theoretischen Zugangs ein, sei in der Praxis zumindest die öffentliche Aufmerksamkeit immer begrenzt auf wenige Ereignisse bzw. Gruppen. So spiele die postkoloniale Perspektive, die bei Rothberg leitend ist, im offiziellen Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus kaum eine Rolle.

ULRIKE JUREIT (Hamburg) nahm den „geschichtskulturellen Umbruch“ einer „Zeit ohne Zeitzeugen“ zum Ausgangspunkt. Einerseits würden die persönlichen Zeugnisse „eingefroren“, andererseits werde eine Pluralisierung von Geschichtserinnerungen freigesetzt. Ohne direkt auf Rothberg Bezug zu nehmen, führte Jureit als Beispiel an, dass Holocaust und koloniale Erinnerung nicht nur in der Wissenschaft in Vergleich, sondern auch in der öffentlichen Gedenkdebatte – allerdings mehr auf der kommunalen als auf der staatlichen Ebene - in Beziehung gesetzt werden. Die Opfer der einen Verfolgungen verweisen auf diejenigen der anderen. Straßennamen und Denkmäler, die an Täter/ideologische Befürworter von Nationalsozialismus oder Kolonialismus erinnern ohne sie als solche zu benennen, werden getilgt und durch Opferbezug ersetzt. Jureit fragte danach, welchen Platz andere Erinnerungen wie Fluchtgeschichten und Kriegsgeschichten einnehmen. Kritische Theoriebildung sei nötig, statt nur Erinnerungen pflegend aneinander zu reihen. Was verbirgt sich hinter dem Erinnerungsbegriff? Etwa eine Krise des Historischen allgemein?

BILL NIVEN (Nottingham) ging davon aus, dass das Ende von DDR und BRD2 eine neue Geschichtssicht erlaubt hat. Die der Wiedervereinigung folgende Aufarbeitung der deutsch-deutschen Geschichte beurteilte er positiv und betonte, dass es – entgegen oft geäußerten gegenteiligen Behauptungen – in Deutschland eine multidirektionale Erinnerung gibt, auch in Bezug auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit Nationalsozialismus und das öffentliche Gedenken an die Verfolgung unter dem Nationalsozialismus. Dabei zeigte er sich aufgeschlossen für moderne Methoden der Darstellung des und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Zeit nach den Zeitzeugen. Er war an der Produktion eines holografischen Filmes mit Interviews von Holocaust Überlebenden beteiligt, der Interviewtexte von Überlebenden so verarbeitete, dass Zuschauer:innen anschließend Fragen stellen konnten, die - scheinbar von den Interviewten selbst – aus den Texten beantwortet werden und so die virtuelle Transformation als erlebte Realität widergeben.

Christina Morina wollte zum Auftakt der Diskussion beider Beiträge genauer erfahren, welche Rolle denn die Historiker:innen und ihre Wissenschaft in der Erinnerungspraxis haben.

Ulrike Jureit formulierte zwei Anforderungen, denen die Geschichtswissenschaft nachkommen muss: den Nachweis zu liefern, dass es wirklich geschehen ist, und zu reflektieren, wie die Geschichte weitergegeben wird, d.h. sich mit der Theoriebildung des Erinnerns und Gedenkens zu beschäftigen. Der anfänglich im Vordergrund stehende Opferdiskurs habe spätestens mit Stalingrad begonnen und sich nach 1945, jedenfalls in der Bundesrepublik, fortgesetzt und mit der Wiedervereinigung eine neue Qualität erhalten. Die NS-Gedenkstätten seien nach 1990 „fast explodiert“. Erst in den letzten Jahren habe die Täterforschung an Bedeutung gewonnen, wobei sich das Problem – gerade in didaktischer Hinsicht - stelle, dass man sich mit Täter:innen nicht identifizieren könne. Biographische Erlebnisse seien im Vordergrund gestanden insbesondere dort, wo es um die Vermittlung von Geschichte gehe, sei es in der Erwachsenen- oder Jugendbildung. Mit der Wehrmachtsausstellung habe sich familiäre Geschichte in den Vordergrund geschoben; die Jüngeren haben sich dabei aber oft weiter an den anderen Geschichten orientiert, die sie in der Familie gehört haben – im Gegensatz etwa zu denen, die die Ausstellung erzählte oder denen sie im Schulunterricht ausgesetzt waren.

Hier hakt Bill Niven engagiert ein: Die Ausstellung zerstörte den Nimbus der sauberen Wehrmacht. Die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Massenverbrechen wurde deutlich. Streit und Debatten um die Erinnerung, wie sie in Deutschland geführt werden, kenne er aus England nicht.

Er stellt die Frage, ob die dominante Erinnerung an den Holocaust, insbesondere die These seiner Einzigartigkeit, diejenige an den Kolonialismus blockiere? Jureit schwächt das ab mit dem Hinweis auf inzwischen schon zahlreiche Studien, die Vernichtungspolitik in Holocaust und Kolonialismus in Beziehung setzen. Gerade deswegen aber sei es Aufgabe der Wissenschaft, den Begriff des Genozids zu klären, dessen völkerrechtliche Bedeutung und wissenschaftliche wie umgangssprachliche Nutzung auseinanderfallen könnten. Der NS-Vernichtungskrieg hatte zwar (auch) koloniale Ziele, aber war er ein koloniales Projekt?

Niven äußerte sich zum Schluss der Debatte kritisch zum sogenannten Lernen aus der Geschichte: Rassismus in der deutschen Gesellschaft sei nicht direkt aus dem Nationalsozialismus ableitbar, sondern habe vor allem mit heute zu tun. Andernfalls wäre zu fragen: Haben die Gedenkstätten versagt, haben wir aus den Gedenkstättenbesuchen nicht gelernt?

Die Frage nach multidirektionalen Zugängen des Gedenkens an Nationalsozialismus und Holocaust hat den Theorie-bezogenen Grund gelegt für die Beiträge der zweiten Runde, die allerdings deutlich Subjekt-bezogener argumentierten, gegensätzliche Positionen stärker herausforderten und schärften, nicht zuletzt, weil diese sich mit unterschiedlichen Biographien verbinden: NATAN SZNAIDER (Tel Aviv) wurde als Kind von Überlebenden aus Polen in Deutschland geboren, wuchs hier auf und wanderte als 20jähriger nach Israel aus, wo er u.a. Geschichte studierte und heute lehrt und AHMAD MANSOUR (Berlin) einer seiner Studenten war. Mansour wurde als arabischer Israeli geboren, zog während seines Studiums der Psychologie nach Deutschland und engagiert sich hier in der Jugend- und Erwachsenenbildung.

Diese Divergenz der Erfahrungen zu thematisieren, forderte ANNA STROMMENGER (Bielefeld) mit ihrem einleitenden Beitrag heraus, der mögliche Herausforderungen, Konflikte und Perspektiven von Erinnern und Gedenken thematisierte und damit noch einmal deutlich machte, dass sich Erinnern und Gedenken notwendig mit dem Fortlauf der Zeit ändern, auch wenn der historische Gegenstand, auf den sie sich beziehen, gleich bleibt. Was aber heißt dann „zeitgemäßes Erinnern“ an Nationalsozialismus und Holocaust heute?

Diesen Ausdruck lehnte Natan Sznaider emphatisch mit der Gegenfrage ab, was denn unzeitgemäßes Erinnern bedeuten würde? Wäre der Rückgriff auf die Erinnerung der Zeitzeugen heute etwa unzeitgemäß? Was können sie heute noch zur Debatte beitragen? Die Erzählung der Betroffenen, die gelitten haben, habe keinen Rahmen, sie seien Teil einer furchtbaren Maschine gewesen, die sie aber nicht kannten. Pietät verbiete uns den Vergleich ihres Leidens mit anderen Opfern der Geschichte, die Wissenschaft aber gebiete ihn. Die Gegenwart ist zu lesen als Ende der Vergangenheit und zugleich als Beginn der Zukunft. Aber diese beiden Perspektiven der Gegenwart zu verbinden sei schwierig.

Ahmad Mansour sah die Schwierigkeit, wenn nicht Unvermittelbarkeit, der Perspektiven schon im Blick von der Gegenwart auf die Vergangenheit und erläuterte dies an Hand der unterschiedlichen Biographien von ihm selbst und Sznaider. Er sei Muslimbruder gewesen und habe ein schwarz-weiß-Bild von Israel gehabt, von dem er sich erst durch das Studium habe lösen können, da er nun mit seinen „Feinden“ habe auskommen müssen. Mit der Debatte um den Holocaust ist er erst in Deutschland konfrontiert worden. Für Mansours berufliche Tätigkeit bleibt die Konfrontation mit Antisemitismus, auch in Deutschland, prägend. In seinen Bildungsprogrammen dient die Behandlung von Nationalsozialismus und Holocaust dazu, antisemitische und antiisraelische Haltungen aufzubrechen; dies geschieht – im Gegensatz zu schulischem Unterricht oder gängigen Kursen der Erwachsenenbildung - im Spiegel der Biographien der Teilnehmer:innen, ähnlich wie Mansour dies in seiner eigenen Biographie erfahren hat. Er zweifelt daran, dass angesichts des Antisemitismus in Deutschland die offizielle Erinnerungskultur mit ihrem hohen Anspruch eines „Nie wieder“ überhaupt funktioniert. Wenn wir mit einer demokratischen Erinnerungskultur den Abbau von Vorurteilen und das Zusammenleben lernen wollen, dann darf sie keine Pflichtübung werden, wie dies bei zeremoniellen Feiern, wie z.B. am 27.1., leicht geschieht. Gedenkstätten fühlen sich oft überfordert bei der Langzeitbetreuung von Gruppen, die nicht nur Informationen anbietet, sondern die emotionale Verarbeitung einbezieht. Mansour plädierte dafür, Platz zu geben auch denjenigen, die Gedenkstättenbesuchen oder der deutschen Gesellschaft überhaupt ablehnend gegenüberstehen, ihre eigene Biographie auszudrücken und sich in der Gesellschaft neu zu positionieren. Sznaider wirft ein: „Erinnerung macht uns nicht zu besseren Menschen.“ Es sei eine merkwürdige Annahme, dass man Antisemitismus mit einem modernen Werkzeugkasten „wegpädagogisieren“ könne. Was ist die Konsequenz von Nichtwissen? Sind die Wissenden gefeit gegen Antisemitismus? Gedenkstätten seien gesellschaftlich und pädagogisch überbewertet. Er habe sich in Israel gegen Schülerbesuche in Auschwitz ausgesprochen. Er plädierte für ein altmodisches staatsbürgerliches republikanisches Modell: Man übernimmt als Einwanderer Verantwortung für das, was im Namen des Staates, in dem man lebt, geschehen ist. Mansour räumt ein, dass Bildungsbesuche historisch belastender Orte Symbolpolitik und Rituale sein könnten, aber man könne die Teilnehmer:innen begleiten, so dass die Besuche intellektuelle und emotionale Wirkungen zeitigen. Es gehe nicht nur um Wissen, sondern um Leugnung, die tiefer sitze und durch Wissen allein nicht aufzubrechen sei; deshalb sei es nicht hilfreich, auf der intellektuellen Ebene den Kampf gegen Antisemitismus mit dem Kampf gegen Rassismus gleichzusetzen.

Sznaider erläuterte, der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus gehe zurück auf progressive Juden in den USA, die beide diskriminierte Gruppen – Juden und Farbige - darunter zusammenführen wollten. In der damaligen spezifischen Situation in den USA habe das politisch Sinn gemacht, das sei aber im globalen oder europäischen Kontext als Konzept multidirektionaler Erinnerung nicht der Fall. Die Wahrheit liegt nach Sznaider nicht in einem theoretischen Konzept der Zusammenführung unterschiedlicher Perspektiven, sondern: „Die Wahrheit lebt im Gespräch.“

Die Moderatorin zollte zum Schluss dem Titel des Panel Referenz und fragte nach der Zukunft des Gedenkens an Nationalsozialismus und Holocaust. Auch hier überraschten die Antworten der Referenten. Sznaider äußerte eine traumhafte Vision, die so ganz das Gegenteil dessen darstellt, was der zentrale Gegenstand seiner universitären Lehre ist: Seine Phantasie über die Zukunft sei: Ich wache morgens auf und die Shoa ist verschwunden. Mansour nahm die Vision auf und fragte: Wie würde es unter dieser Voraussetzung Juden in Deutschland heute gehen und wie würden die Deutschen über Israel denken? Die Erinnerungskultur sei der letzte Damm, der schlimmere Ausbrüche des Antisemitismus verhindere, weil es ohne sie einfacher wäre, mit antikolonialem Argument gegen Israel vorzugehen. „Die Erinnerung an das Verbrechen schützt.“

Die Kreuzung von wissenschaftlicher Forschung, Arbeit am öffentlichen Gedenken und biographischer Erfahrung gab der Tagung eine besondere Note von Reflexion, Analyse und Spontanität, verwischte aber zugleich Unterschiede zwischen Interpretationen der Geschichtswissenschaft einerseits und dem Wissen und Gedenken im öffentlichen wie privaten Raum. Die Zukunft wurde zuletzt und auch nur kurz angesprochen. Die Vergangenheit ist offenbar immer noch so drängend, dass die Perspektiven auf sie von unserer heutigen Situation aus zu so tiefgreifenden Kontroversen führen, dass Gedanken an die Zukunft der Erinnerung zu fern liegen. Aber lohnen würde es sich zu diskutieren, wie wir uns gegenüber dem Gedanken verhalten würden, dass eine Generation heranwächst, für die diese Vergangenheit nicht mehr so drängend wäre, die sich vielleicht stärker dem gegenwärtigen als dem vergangenen Rassismus oder sich als Zentrum der Erinnerung tatsächlich der kolonialen Vergangenheit oder überhaupt anderen epochalen Ereignissen zuwenden würde. Wäre das „zeitgemäß“?

Konferenzübersicht:

Christina Morina (Bielefeld): Einführung - Geschichte als gesellschaftliche Selbstverständigung? Anmerkungen zur Gegenwart und Zukunft des NS-Gedenkens

Panel 1
Moderation: Christina Morina

Ulrike Jureit (Hamburg) / Bill Niven (Nottingham): Zeithistorische Perspektiven auf den Umgang der Deutschen mit dem Nationalsozialismus seit 1945

Panel 2
Moderation: Anna Strommenger (Bielefeld)

Natan Sznaider (Tel Aviv) / Ahmad Mansour (Berlin): Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Erinnerns an den Nationalsozialismus

Anmerkungen:
1 Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the age of decolonization, Stanford 2009.
2 Das war wohl nur eine etwas lockere Formulierung aus englischer Sicht, denn die BRD bestand ja fort, aber nach Nivens Einschätzung änderte sich offenbar die Positionierung des NS-Gedenkens nach der Wiedervereinigung auch in Westdeutschland.

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